Der Gedanke aufzuhören

Vor gut zwölf Jahren habe ich mich zur Kinderanimateurin ausbilden lassen. Eine lehrreiche Zeit, über die sich viele mit Verwunderung äußern, sobald ich sie heute in Gesprächen erwähne. Meine erste Saison verbrachte ich in Spanien. Sieben Monate in einem Familienhotel, also einem Hotel für Familien. Das war harter Tobak kaum Gleichgesinnte um sich zu haben, mal abgesehen vom Animationsteam. Der Leitspruch "Never intim in the team!" wurde einigermaßen ernst genommen. Zu Anfang war das Team klein, denn es war noch Vorsaison. Wir konnten uns ausprobieren, kreativ sein, ein Programm für den Kinderclub auf die Beine stellen und uns von unseren ersten kleinen Gästen auf der Nase herumtanzen lassen. Schnell lernten wir, dass wir freundlich, aber bestimmt sein müssen, sonst bleiben wir auf der Strecke. Diesen Tipp gaben uns die kleinen Rabauken sogar freiwillig, nachdem wir ihnen nach einer Woche Aufenthalt gesagt hatten, dass wir sie doof finden.

Der Sommer rückte näher. Und bis auf ein paar Sandstürme, die den Himmel gelb färbten, ein wunderbares Licht und Balsam für meine Augen, passierte nicht viel. Es kamen mehr Gäste, das Team wurde größer, der Pool milchiger. Unser Zwei-Wochen-Plan, den wir zu Beginn zunächst mühselig, aber dann sehr stolz aufgestellt hatten, hing uns zu den Ohren heraus: "Was schon wieder Kinder schminken?" Wir wurden dünnhäutiger und die Querelen im Team nahmen zu. Besonders dann, wenn ein Teammitglied krank wurde und die anderen den Dienst abfangen mussten. Das Hotel wurde voller und voller. Die Toilette im Kinderclub funktionierte jede Woche gefühlt an mindestens sechs Tagen nicht. Die Abendshows wurden voller und der Lärmpegel der Gäste immer höher. Dementsprechend wurden auch die Shows, in denen wir ohne Mikro arbeiteten immer anstrengender. Es machte immer noch viel Spaß, aber ich glaube nur, weil sich der Ausgleich immer schräger und intensiver entwickelte. Fast jede Nacht ging ich nach den Proben erst was essen und dann feiern. Angeschwippst und völlig übermüdet fand ich mich häufig auf einer Strandliege wieder und stellte fest, dass ich in nur vier Stunden für die Hotelgäste schon wieder den Affen machen musste...

Meine zweite Saison begann kurz nach Silvester. Wieder in Spanien auf einer kleinen kanarischen Insel. Erst hier merkte ich wie behütet von unserem Teamchef und vom Hotelpersonal die letzte Saison verlaufen war. Ich war noch voll im Winterschlafmodus und fand mich nun wieder im Heidschi-Bum-Beidschi des Kinderclubs, der noch schlechter ausgestattet war als der letzte und im Halli-Galli der Abendshows, die in einem stickigen, bahnhofshallenähnlichen Innenraum stattfanden. Ich vermisste den Wind in den Haaren auf der Bühne, die kleine überschaubare Anlage, das fürsorgliche Personal und meinen Teamchef, der für jeden Scheiß seines Teams den Kopf hin hielt.
Mit dem Eigentum des Animationsteams nahm es das Hotelpersonal nicht ganz so genau. Nachts amüsierten sich die Kakerlaken aufs heftigste vor meinem Bett in meiner Unterkunft und erschreckten mich als Partyleichen am nächsten Morgen zu Tode. Sobald es regnete wurde die komplette Robe der Animation durchweicht, da das Dach undicht war. Nachdem zum dritten Mal während der Saison in den Technikraum der Bühne eingebrochen und diverses geklaut wurde, stellte ich meinen Versetzungsantrag!

Die dritte Saison verbrachte ich auf Kreta in einem schönen neuen Hotel. Nicht nur, dass ich nun Chefin des Kinderclubs war, nein, ich hatte auch mein eigenes Zimmer. Und zwar auf einem Berg. Mit Blick über die gesamte Hotelanlage und aufs Meer - das erste und das letzte, was ich Tag für Tag sah. Leider musste ich mich mit einer der Teamchefinnen aus dem letzten Hotel arrangieren. Wir hatten wenig für einander übrig.

Die Saison verlief gut. Ich konnte meine eigene Kindershow auf die Bühne bringen. Die Eltern waren begeistert und ich stolz wie Bolle! Bei den Abendshows konnte ich auf der Bühne mein Potenzial entfalten. Jede Woche gab es einen Discoabend mit anschließendem Gästekontakt und Clubtour in der Stadt. Tagsüber quoll der Kinderclub über, in dem ich die fürsorgliche Kindermutti mimte, und nachts musste ich los und mit den Gästen auf die Pirsch. Irgendwann war der Akku leer!
"Gib einem Animateur eine Minute Ruhe und er ist eingeschlafen." Wenn sich einer fragt warum Animateure immer so verrückt und aufgedreht sind, hier kommt die Antwort: nach müd' kommt blöd!

Ich habe noch eine ganz klare Erinnerung an meinen letzten Tag am Strand. An diesem Vormittag war Beach Time auf dem Plan und wir waren unterbesetzt. Ich musste mit den Kindern alleine zum Strand und war, nachdem ich in der Nacht zuvor den Discodienst hatte, völlig übermüdet. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Kaum am Strand angekommen sank ich auf mein Handtuch. Die starke Brandung rauschte, die Kinder tobten am Strand. Ich schloss meine Augen und döste langsam in den Nebel des süßen Schlafes.
Ich schreckte hoch. Was, wenn einem Kind etwas passiert und ich bin schuld weil ich nicht aufgepasst hatte? Ich wollte aufstehen, doch es ging nicht. Alles war fürchterlich schwer und ich konnte mich kaum bewegen. Dann kam die Wut. Wie kann man so etwas verantworten, mich hier mit den Kindern alleine herzuschicken? Ich, die weder dafür ausgebildet, noch auf der Höhe ist schnell zu reagieren. Ich war diese Verantwortung so satt. Ich wollte sie nicht mehr. Es war zu viel. Es musste aufhören!

Wie ich vom Strand zurück ins Hotel gekommen bin, weiß ich nicht mehr.

Eine Woche später wollte ich während meiner Abendpause die Sonne genießen und vor meinem Zimmer einfach aufs Meer glotzen. Ich holte schnell etwas zu essen und zu trinken aus meinem Zimmer und zog gedankenverloren die Tür hinter mir zu. Der Schlüssel steckte im Schloss. Von innen! Ich trat so hart gegen Tür, dass sie aufsprang und das Bodenblech quer durch das Zimmer flog. In der darauffolgenden Nacht schwoll mein rechter großer Zeh fast auf das Doppelte an. Ein Arzt im Ort bestätigte mir, dass ich mir den Zeh gebrochen hatte und schrieb mich krank. Zwei Tage später gab mir meine Teamchefin die Kündigung....

Den letzten Monat war ich freigestellt. Mein Flug ging Ende August 2005 zurück nach Deutschland. Ich machte mich sofort auf den Weg zu meinen Eltern an die Ostsee, die dort gerade ihren Jahresurlaub verbrachten. Der September war der schönste, freieste und wohl Schlaf intensivste Monat im Laufe meiner Karriere als Animateurin.

Ich bin dankbar für jede kleine Geschichte, die während dieser anstrengenden und aufregenden Zeit passiert ist. Ich habe viel über mich und über Gruppendynamik gelernt. Habe den interkulturellen Austausch mit den Spaniern und den Griechen genossen. Kollegen zu schätzen und vermissen gelernt und wie viel Druck ein Chef aushalten muss.

Rückblickend betrachtet weiß ich, dass wir auf unseren Wegen und Irrwegen begleitet werden. Und wenn wir selbst Entscheidungen nicht treffen, dann werden sie für uns getroffen.