Von Eulen und Tauben

Ich erinnere mich noch ganz genau. Der kühle leicht muffige Geruch, das Zimmer durchströmt von einem dunklen Orange. Die Vorhänge sind zugezogen. Ich liege auf dem Sofa meiner Großeltern und "ruhe ein bisschen". So hat es Oma immer genannt, wenn ich keinen Mittagsschlaf machen wollte - ein bisschen ruhen. Ein wohliges Gefühl umgibt mich und ich stopfe die Füße unter die dünne Decke, die bis zur Nase hochgezogen ist. Draussen ist Sommer und die "Eulen" gurren. Ab und zu fährt ein Motorrad auf der Dorfstraße vor der großen Villa entlang, in der meine Großeltern wohnen. Drinnen ist es angenehm kühl und ich fühle mich geborgen. Inzwischen sind meine Eltern nach hause gefahren. Eine Masche, die öfter zog. Eine Stunde bevor wir uns auf den Heimweg machen wollen lege ich mich hin und tue so, als wäre ich eingeschlafen. Kurz darauf kommt meine Mutti zu mir, streicht mir über die Haare, gibt mir einen Kuss und sagt, dass sie mich am nächsten Tag abholen. Und wieder konnte ich sie austricksen und über Nacht bei meiner Oma bleiben. Aber wahrscheinlich haben sie meine Masche eher durchschaut, als dass ich die Wirksamkeit dieser erkannt habe. Am Nachmittag stromere ich mit meiner Cousine los und mache die Umgebung unsicher. Kleine Seen, Bäche, Kuhweiden, Pferdekoppeln, weite Wiesen und die Ruhe und Abgeschiedenheit des Dorflebens. Viel zu entdecken, dazu Leichtigkeit und Unbeschwertheit...

Der Lauf der Zeit zieht seine Kreise und ich warte, dass ich endlich erwachsen werde und Sachen machen darf, die eben nur Erwachsene dürfen. Den Spruch des Vaters: "Solange du noch keine 18 bist, haben wir hier das Sagen!" Konnte ich mir öfter anhören. Mit der Vollendung des 18. Lebensjahres kam eine neue Variante. "Solange du deine Beine unter meinen Tisch steckst, habe ich hier das Sagen!" sagte mein Papa des öfteren und konnte sich ein Schmunzeln dabei nicht verkneifen. All die Errungenschaften des Erwachsenseins, wie zum Beispiel Torte zum Frühstück, so lange wach bleiben wie man will oder die Freiheiten des Führerscheins, machen wahnsinnig lange Spaß - gepaart mit der Leichtigkeit des Seins und der Unbeschwertheit, eine zuckersüße Kombination. Sobald das Leben eines Erwachsenen mit all seinen Pflichten dazu kommt entfleucht der Leichtsinn und die Unbeschwertheit wie die Luft aus einem dicken pinkfarbenen Glitzerluftballon.
Gegen Ende meines Studiums machte ich den Sportbootführerschein und lernte dabei zwei Mädels kennen, die gerade erst ihr Studium begonnen hatten. Sie waren voller Leichtigkeit und voller Freude und Spannung auf den nächsten Tag. Ich konnte ihre Unbeschwertheit quasi greifen. Die Energie sprang auf mich über und wir hatten, wann immer wir uns sahen sehr viel Spaß. Ich denke, dass ich diesen großen Unterschied in der Leichtigkeit des Seins unmittelbar spürte, da die Jahre zuvor mit vielen Sorgen behaftet waren. Sorge um das Erreichen von Anforderungen, die ich an mich selber stellte, oder die vermeintlich andere an mich stellten. Sorge ums Geld und um die Zukunft. Was wird nach dem Studium. Bin ich bereit für das was dann kommt? Ein paar Semester später traf ich die Mädels vom Sportbootführerschein auf einer Party wieder und die Sorgen, Ängste und Anforderungen des Erwachsenseins und des Studiums hatten sie eingeholt. Die Leichtigkeit und Unbeschwertheit war weg. Das machte mich sehr traurig.

Jede negative Erfahrung, jede Angst, jedes Sorgen machen speichert sich in uns und begleitet uns weiter. Wie ein bedrucktes Faxpapier, was langsam ausbleicht. An der Oberfläche ist nicht mehr viel zu sehen, aber man weiß, dass da mal was war. Sorgen und Empfindungen aus der Vergangenheit sammeln sich mit Ängsten und Befürchtungen für die Zukunft. So lange bis daraus ein dicker schwarzer Brei entsteht, den man so leicht nicht mehr wegdrücken kann. Diese Ängste überlagern dann Situationen und Gedanken. Dinge, die man vorher unbeschwert und mit Leichtigkeit absolviert hat scheinen plötzlich völlig abwegig und schlicht unmöglich. So kann es passieren, dass eine Prüfung oder ein einfacher zweistündiger Flug zum Horrorszenario verkommt. Und man schlussendlich abbricht, weil diese Situation so undurchstehbar erscheint, als dass man sterben würde. Natürlich ist das alles Kopfsache, aber dieser Schelm spielt einem doch öfter einen Streich.
Vor drei Wochen musste ich 30 Minuten vor dem Start unseres Urlaubsfliegers abbrechen. Ich war so traurig darüber, dass ich es bis jetzt noch nicht fassen kann. Verstehen werde ich es wohl nie ganz. Ich bin ein rationaler Mensch, aufgeklärt durch die Wissenschaft. Die Angst abzustürzen war kaum präsent. Die Angst zwei Stunden in dieser Maschine zu sitzen und dieser Situation nicht entfliehen zu können, war über die Maßen unerträglich. Ich frage mich nun öfter wo diese Leichtigkeit und Unbeschwertheit der Kinder- und Jugendtage geblieben ist. Was ist passiert in meinen vergangenen Jahren als Erwachsene? Wo ist die Begeisterung für das Fliegen geblieben? Wieso scheinen Dinge, die vorher völlig selbstverständlich waren nun absolut abwegig? Und die wichtigste Frage für mich: "Hört das wieder auf?" Jeder hat sein Paketchen zu tragen. Die Frage wann und ob man unter der Last zusammenbricht muss jeder für sich selbst beantworten. Ich wünschte mir, dass es, auch wenn wir aus Fleisch und Blut sind, irgendwo einen Reset-Knopf gibt und wir nach dem Drücken wieder unbedarft in die Welt schauen könnten. Bis wir diesen Knopf gefunden haben gehe ich ab und zu in Gedanken zurück unter meine Decke, höre den "Eulen" beim gurren zu und fühle mich geborgen, leicht und unbeschwert.

Nachtrag!
Ich weiß, dass dies ein trauriger Text ist. Zum Glück werden wir im Leben auch von wahnsinnig schönen Dingen überrascht, von denen ich auch zu berichten weiß ; )
Viele Jahre später fand ich heraus, dass die "Eulen" eigentlich gurrende Tauben sind. Dieses Geräusch wird für immer mit den Erinnerungen an meine Kindheit auf dem Dorf verbunden bleiben.