Du bist noch nicht da!

Grinsend kommt meine Mama zurück ins Zimmer. 
"Guten Morgen mein Schatz. Alles Gute zu deinem Geburtstag! Aber du bist noch nicht da!“

Dieses Jahr bin ich mal abgehauen. Zu meinem 35. Geburtstag will ich im Elbsandsteingebirge auf die Bastei hochkraxeln und Mama macht mit. Eben war sie unten in der Gaststube und hat unsere Übernachtung und unser Abendessen vom Vortag bezahlt. Ihr Geburtstagsgeschenk für mich. In der Nähe des Malerweges, einem Wanderweg, der eher für Touristen angelegt, als natürlich entstanden ist, haben wir uns  für eine Nacht im Landgasthaus zum Schwarzbachtal einquartiert. Als wir am Vortag, der von heftigen Regengüssen durchzogen war, anriefen war noch genau ein Zimmer frei. Wir hatten Glück, denn das Landgasthaus ist ein beliebtes und außergewöhnliches Kleinod. Für das Essen und die Bewirtung gab es über viele Jahre hinweg sehr viele Auszeichnungen. Dies zumindest zeigt uns voller Stolz die bunte Wand vor dem Gastraum. Wir sind auf dem Weg zum Frühstück und mir schwant ganz leise im Hinterkopf, dass Mutti sich vorhin nicht nur zum Bezahlen aus dem Zimmer geschlichen hat.

Und tatsächlich, am Tisch werde ich von einem Blumenarrangement begrüßt und im nächsten Augenblick von der Frühstücksdame. Sie gratuliert mir recht freundlich und weiß sogar wie alt ich geworden bin. Da hat Mutti wohl etwas mehr verraten. Sie schaut mich grinsend an und sagt: "Aber du bist noch nicht da!"

Bei einer großen Kanne Tee, selbst gemachter Konfitüre und frisch gebackenen Brötchen erzählt sie mir wie warm es an jenen Tagen vor 35 Jahren war. Nur noch die kalten Fließen in der Küche konnten helfen. Dort stand sie barfuß, während die Wehen sie plagten und trank kalte Milch. Bei der zweiten Tasse Tee bzw. Kaffee angelangt beginnen wir unseren Tag zu planen. Ich hatte keine Ahnung wo da irgendwas war und mein letzter Besuch im Elbsandsteingebirge war sehr viele Jahre her, aber ich wusste, ich will auf die Bastei.

Gegen 10 Uhr brachen wir vom Landgasthaus auf, natürlich mit dem Auto, und fuhren erstmal irgendwohin los. Irgendwie in die Richtung, die uns die Frühstücksdame beschrieben hatte. Wie am Tag zuvor durchkreuzten uns Baustellen unseren Weg. Das war dann und wann sehr ärgerlich, da sie genau an strategisch wichtigen Stellen positioniert waren, und uns somit von der Durchfahrt zu unserem Zielort abhielten.

Nachdem wir tatsächlich drei Mal im Kreis gefahren waren, da die Abfahrt zur Bastei aufgrund einer Baustelle gesperrt war und wir in Richtung Festung Königstein rumirrten, ließ ich endlich das Navi unsere Reise planen. Ja, ich kann nach Verkehrsschildern fahren und ich mach’ das auch gerne, aber wenn sie mich verwirren und ich den Weg nicht finde, muss die Technik ran. Mit dem Einsatz des Navis fand ich endlich heraus, dass der Weg zur Bastei durch Rathen führt. „Ja gut liebes Navi, dann bring uns bitte nach Rathen!“

"An der nächsten Kreuzung biegen Sie bitte links ab!" Ich guckte völlig blöde, denn da war ein Sackgassenschild. Inzwischen hatten wir bestimmt schon zwei Stunden durch unser Herumirren vertrödelt. Wenn mich eins so richtig wütend macht, dann ist es, wenn ich im Straßenverkehr nicht voran komme. Muss wohl so ein komisches deutsches Phänomen sein ;) Wir standen an der Straßenseite und glotzten aufs Navi. "Oh man, gibt’s denn da nicht noch ’nen anderen Weg, wo keine Baustelle ist?!" In der Zwischenzeit fuhren einige Autos an uns vorbei, die anscheinend auch nicht wieder zurück kamen. Also versuchten wir unser Glück, fuhren die Straße weiter und landeten vor einer gesperrten Ortsdurchfahrt, auf einem kleinen Schotterparkplatz. Hier war nichts und gar nichts ausgeschildert. Keine Wanderkarte, kein Wegweiser! Allein ein Automat wollte von uns Geld haben, falls wir uns entschieden das Auto abzustellen. Das Navi zeigte noch zwei Kilometer bis zur Bastei. Während ich durch die angrenzenden Büsche schlich und ein Eckchen für meine Notdurft suchte, kam mir wiedermal der kleine aber so wichtige Satz aus dem Buch „The long way down“ in den Sinn. Während Ewan McGregor mit seinem Motorradfreund vom Norden Schottlands bis zum südlichsten Punkt Afrikas unterwegs ist, wissen sie auch oft nicht weiter und er sagt zu seinem Freund: „Charley vertraue der Technik!“ Jawoll, so machen wir das auch, denke ich mir und hock mich mit meinem Hintern prompt in eine Brennnessel. Hm!
Wir kaufen brav ein Ticket, packen den Rucksack und spazieren los. Etwa zehn Minuten später stehen wir mitten in Rathen und feiern, dass wir es gefunden haben.

Vor einem kleinen Souvenirgeschäft bleiben wir stehen. Etwas am oberen Dachgiebel hat meine Aufmerksamkeit erregt. Ich schaue genauer hin und auf dem kleinen Schild steht: „Elbepegel 2002“ Mir wird ganz anders! Ungefähr drei Mal hätte man mich hochkant übereinander stapeln müssen, um den damaligen Wasserstand zu erreichen. Wir laufen weiter und uns kommen jede Menge Spaziergänger und Wanderer entgegen. Nun sehen wir wo der „richtige“ Parkplatz gewesen wäre. Wir stehen am Elbufer und schauen auf eine kleine Fähre, die immer wieder Menschengrüppchen über die Elbe gondelt. „Achja, guck mal, da ist der Parkplatz!“ Wir erinnern uns, weil wir wohl beide irgendwann schon mal hier gewesen sind. Innerlich triumphieren wir, weil wir uns das Geld für die Fährüberfahrt gespart haben ;) Wir essen noch ein Eis und dann machen wir uns auf den Weg zur Bastei. Im beginnenden Wald an einer kleinen Kreuzung angekommen, sehe ich einen kleinen Weg, der geradeaus mit einer kleinen Steigung weiterführt. Links davon geht ein Kopfsteinpflasterweg schon etwas steiler auf den Berg hinauf. Ich denke, oh hoffentlich ist es der Weg geradeaus und nicht der linke. Dann muss ich laut loslachen, denn nochmal links vom Kopfsteinpflasterweg führt ein Pfad geradewegs am Berg nach oben und der ist es! Dreißig Minuten Aufstieg steht am Schild und meine Mama stöhnt. Ich feuer' sie an und laufe los.

Laut schniefend und schwitzend kommen wir oben an. Auf die Uhr haben wir nicht geschaut, dafür war die Landschaft zu schön. Der Regen vom Vortag lässt den Wald duften und das Grün der Bäume, Büsche, Farne und Mose zeigt sich satt und kräftig. Auf den großen Steinen und Felsen können wir genau sehen, wie die Flora sich Zentimeter um Zentimeter und Ebene für Ebene nutzbar gemacht hat. Zuerst setzen sich einige Ablagerungen, vom Wind oder von Tieren hergetragen, an den Sandsteinfelsen ab. Dann kommen die Mose und Flechten und bilden eine Grundlage für Farne und Buschwerk. Anschließend kommen die Bäume, die auf dieser Grundlage immer höher und höher wachsen können.

Der Blick von der Basteibrücke, auf der einen Seite hinunter ins Tal auf die Elbe, auf der anderen Seite hinein ins Elbsandsteingebirge, ist atemberaubend. Uns werden die Knie weich, so weit oben sind wir. Wir stehen da, halten uns am Brückenrand fest und schauen zugleich gespannt und verzückt in die Landschaft. Meine Mama legt den Arm um mich und sagt: „Du bist immer noch nicht da!“

Mein Bruder ruft an und gratuliert mir. Wir verabreden mit ihm, dass wir meinen Neffen nachher noch aus dem Kindergarten abholen und mit ihm baden gehen. Ich genieße noch etwas dieses beeindruckende Bauwerk von Natur und Mensch und verabschiede mich dann. Auf bald!

Meine Mama ist schon vorgelaufen. Sie kann es kaum erwarten mit dem Kleinen baden zu gehen. Der Abstieg verläuft ganz wunderbar. Den letzten Rest versetze ich meinen Waden mit dem Aufstieg aus der Ortschaft Rathen, hinauf zu unserem kleinen Schotterparkplatz. Insgeheim frage ich mich, ob der andere Parkplatz nicht doch bequemer gewesen wäre..

Wir düsen zurück nach Freital und holen den kleinen Sausewind vom Kindergarten ab. Er weiß genau Bescheid und freut sich schon. In seinem kleinen Rucksack ist die Badehose und ein Handtuch. Im Schwimmbad angekommen bescheißen Mama und Enkelsohn mal wieder. Kinder unter 1,05 Meter können kostenfrei baden gehen. Der kleene Matz zieht seine Schuhe aus, stellt sich schräg an die Messwand und grinst breit. Bezirzt lässt die Kassierfrau ihn nochmal ohne Bezahlung rein. Die zwei Stunden im Schwimmbad sind zugleich erfrischend, aber auch anstrengend. Irgendwie will der Kleine dieses Mal nicht so richtig. Während er die Treppen der Rutsche hinauf geht ermahnt er die Oma immer wieder sie solle auch unbedingt da stehen und ihn auffangen. Beim letzten Mal war es wohl noch nötig, jedoch hat es ihn nicht interessiert. Dieses Mal ist er schon um einiges größer und kann stehen, aber die Oma muss aufpassen!

Als wir ihm erzählen, dass ich heute Geburtstag habe will er es erst nicht so recht glauben. „Wieso, ausser ihm hat doch sonst nie überhaupt irgendjemand noch Geburtstag?!“ - schaut er uns fragend und ungläubig an. Doch dann bekomme ich doch noch mein Küsschen und eine Umarmung.

Nach unserem Badespaß bringen wir ihn nach hause zu seinem Papa und blödeln noch ein bisschen. Als wir uns verabschieden sagt er, er sei traurig, weil wir jetzt wegfahren und nicht mehr baden gehen. Wir müssen schmunzeln und verdrücken uns ein Tränchen.

Papa hat Bratkartoffeln mit Tomaten und Eiern gemacht. Dazu gibt es für mich noch saure Gurken. Was für eine phantastische Mischung! Nach einem Tag, gefühlt wie zwei, sitzen wir ermattet und beglückt auf der Couch und lassen uns unser Abendbrot schmecken. Auch Papa hat noch eine Umarmung, Wünsche und ein Küsschen für mich.

Es ist 23:05 Uhr. Meine Mama sagt: „Jetzt bist du endlich da!“ Zufrieden und erschöpft fallen wir ins Bett und schlafen sofort ein.  35!